Adolf Tscherner

Poesie - Die Kurzgeschichten

Inhalt

  1. Chevallier
  2. Rationalisierung füchsisch
  3. Der Stierkampf
  4. Die Mathematik
  5. Die Faust
  6. Oh Gott , es lebt!
  7. Die ultimative Begabung
  8. Ich erschoß John F. Kennedy
  9. Eine Weihnachtsgeschichte
  10. Zeit Gottes

  1. Chevallier

  2. Die Reiter standen in Reihe. Hinter uns hob sich rotglühend die Sonne empor zum Firmament. Die Waffen glitzerten erst fahl, dann flammend. Ein Befehl - die Woge rauschte voran. Wir waren wie trunken, wild, ungeheuren Mutes, gewillt, alles zu brechen, was gegen uns stand.

    Da der Feind. Ebenfalls wutkreischend, kampflüstern, von Sinnen. Wir prallten aufeinander funkenstiebend. Zwei Heere, die sich gegenseitig zerstückelten, zerfetzten, zerhieben. Wir, unsere kleine Schar voran! Die Schwerter klirrten um die Wette, Lanzen zischten, um uns fielen die Feinde wie Fliegen.

    Da - ein Kerl wie ein Berg, von ungeheurer Kraft. Der eine Gasse von Tod und Untergang sich bahnte, kam auf uns zu. Rechts und links fielen die Waffengefährten, die geliebten, von seiner Hand in den Tod. Welch ein Entsetzen! Der Todbringer schritt voran, und keiner konnte sich mit ihm messen. Fliehen? - Und dann? Wenn wir flohen, war alles verloren. Dann brach die Meute über uns herein und mordete alles.

    Schon fiel der erste der Engsten, der zweite, der dritte. Nun auf mich zu. Die Schwerter prallten aneinander. Mit geballter Wucht zwang er mein Schwert hinab. Mein Schild zerbarst unter seinem Schlag. Die Trümmer schepperten in den Grund. Ich stach nach ihm, verletzte seinen Leib. Ein Wutgeheul drang aus seinem Mund. Nun war ich verloren. Rache stand ihm im Blick.

    Ein Schlag fetzte meinen Helm fort. Wie ihm noch standhalten?! Ich schrie: Hilf Chevallier! Hilf mir, hilf mir doch! Mein Schwert, so herrlich geschmiedet, zerbrach vom Schlag dieses Monstrums. Er holte zum tödlichen Schlag aus. Da drang Chevallier in den Kreis. Dort, wo einer der unsern vor seinem Tod den Helm des Riesen getroffen, dabei die Platte gespalten, dorthin zielte des Chevalliers Schlag. Mit fast übermenschlicher Kraft schwang er das Schwert, traf den Helm an rechter Stelle, drang ein, drang tiefer, tiefer, schnitt den Kopf zur Hälfte entzwei, zur Gänze, drang tiefer, spaltete ihn, als wäre es ein Bündel Wachs, das Leben dabei dem Unhold entreißend.

    Ein Schwall von Blut goß sich über uns hin, sprühte uns an, nebelte uns ein. Soviel Blut, wo nahm der Mensch nur dies viele Blut her. Das war beinahe lächerlich. Das war tatsächlich lächerlich! Das war lachhaft grotesk! Hier in dieser Schlacht, wo der Tod keine drei Schritte weit hockte, war die Möglichkeit, alles dies als komisch, unsinnig, lächerlich zu sehen absurd. Dennoch - dem Rachen des Todes kaum entschlüpft sah ich nur noch die Groteske vor mir, das zum Lachen reizende Bild des Grauens.

    Wir sahen uns an und lachten! Chevallier, Chevallier, du bist wie ein rot gerupftes Huhn! - Und du erst - wie eine rot gehäutete Ziege! - Wir lachten, wir lachten. Wir griffen die Schwerter, ich das des Riesen. Chevallier das seine und stürzten uns auf die Feinde. Lachend schlugen wir sie, prustend stachen wir auf sie ein, glucksend mähten wir sie nieder. So rot von Blut wie wir waren, war bald Blut rings um uns. Die Schlacht war gewonnen. Chevallier, wir haben gesiegt!

    Abends im Lager lachten wir noch immer, wo die Braten auf den Feuern sich drehten und die Becher mit roten Weinen kreisten. Ein Lachen war’s, ein Lärm und wilder Gesang. Dann Stille. Chevallier sprach: Mut, Tapferkeit, Sieg! Danach ich: Gefahr, Rettung, Heldentum! Ich nannte ihn: Held Chevallier! Wie aus einem Mund sprachen wir: Laß uns Blutsbrüder sein jetzt und für alle Zeit! Nicht für dies Leben allein, sprach ich. Nein, sprach er, über den Tod hinaus. Zwei, drei Leben, sprach ich, - zehn, zwölf, sprach er, wenn es reicht! - Laß uns Blutsbrüderschaft trinken, sprachen wir geeint, für alle Zeit.

    Der Becher, gefüllt mit Wein und Blut, besiegelte den Bund. Unzertrennlich waren wir fortan. Chevallier, das war eine Zeit! Die Frauen fielen in dieser Nacht über uns her und wir über sie. Die schönste von allen ging zwischen uns beiden hin und her. Chevallier, das war ein Fest! Bald warn wir vom Lieben erschöpft wie vorher vom Kampf der Schlacht.

    - - -

    Wieder ein Ritt. Diesmal nur wir zwei. Über die Ebene hin. Mittagsglut zwang das Haupt hinab. Wir verharrten schnaufend. Da! Wir sahen es beide zugleich, hob sich der Horizont. Eine strahlende Helligkeit um uns. Als wär die Sonne zu reinem Licht verdampft. In der Helle beiden sichtbar zugleich eine strahlende Gestalt - der Avatar!

    Er sprach: Einst half ich euch in der Schlacht. Der Weg, den ihr nun wandelt, führt hinan, von Schlachten fort. Kein Mord mehr ist euch erlaubt, kein Haß, keine Niedertracht. Höret mich und gehorcht. So ist es beschlossen, so muß es gescheh´n, wenn ihr es wollt. Seid ihr bereit?

    Wir nickten beide, vom gleichen Wunsch beseelt, Unrecht zu tilgen, das wir bisher geübt. - Dann ist es festgeschrieben, beschworen, bindend für kommende Zeiten, sprach er und schwand. Die Helle löste sich mit rollendem Geräusch im Sonnenglast.

    Hast du’s gesehn und vernommen wie ich?, fragte mich Chevallier. - Ich hab, sprach ich, und du, hast du geschworen wie ich? - Ich hab! - So sind wir gemeinsam gebunden an unser Wort!

    - - -

    Welch ein ungeheures Glück, in Freundschaft verbunden das höchste Ziel zu verfolgen!

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  3. Rationalisierung füchsisch
  4. Jetzt!, sagte der Fuchs zu der Hühnergesellschaft, die ihn neugierig beäugte, jetzt ist offenbar, daß ich das friedlichste Geschöpf unter den friedliebenden Tieren der Erde bin. Was ich, von allen verkannt, im Schilde führe, ist doch nur das beste für das hühnerische Federvieh.

    Seit das Konzept von der Rationalisierung des Hühnerbestands umsichgreift, wird auch der letzten Henne klar, daß sie sich ganz und gar, mit Federwisch und Federkiel, auf die Belange dieser großartigen Umstrukturierungsaktion einzustellen hat.

    Sicherung der Futterplätze steht obenan - wir sichern sie! Wir, Fuchs und Hühner, in Kooperation, haben eine wahrhaft gigantische, wenn nicht heroische Aufgabe vor uns, Schritt für Schritt in der gebotenen Rationalisierung fortschreitend, alle Dimensionen dieser Aktivität zu durcheilen und den Durchsatz der Hühner in jeder Richtung zu verstärken.

    Und gackert einmal ein Huhn: Hühner aller Hühnerrassen vereinigt euch!, so halten wir dem entgegen: Die materielle Existenz der Hühnergesellschaft hängt langfristig gesehen von Erfolg oder Mißerfolg der füchsischen Rationalisierungsbemühungen ab.

    Wir müssen es ganz deutlich machen, daß Zusammenschlüsse von Hühnerställen, durch die damit gegebenen Synergieeffekte primär dafür geeignet sind, die Überlebensfähigkeit des Gesamtbestands zu sichern. Daß dabei das eine oder andere Huhn im Zuge von sich ergebenden Rationalisierungsmaßnahmen von Füchsen freigesetzt werden muß, ist eine zwar bedauerliche aber nicht zu vermeidende Angelegenheit.

    Die Entscheidung darüber sollte auch, bei allem Respekt für die Animositäten und Ängste der Hühnerschar, ausschließlich den Füchsen vorbehalten bleiben. Um es ganz deutlich zu sagen: Hühner sind da zur Futtersuche, Füchse für die Aufrechterhaltung, Reduzierung und Verwertung des Hühnerbestandes.

    Es muß auch dem letzten Huhn klar gemacht werden, daß die großen unternehmerischen Herausforderungen nur in Gemeinsamkeit von hühnerischem Produktionseinsatz und füchsischem Unternehmertum bewältigt werden können. Nur Kooperation von Huhn und Fuchs in wettbewerbsfähigen Geschäftsstrukturen kann in sich verengenden Märkten und verschärfender Konkurrenzsituation ein Überleben des Ganzen sicherstellen.

    Bei der anstehenden Fusion zweier Hühnergehege sollten Fragen von Schutz der einzelnen Henne ausgespart bleiben. Wir haben ein Rationalisierungsschutzabkommen, und damit ist es genug. Wo kämen wir hin, wenn wir jedem Huhn Bestandsschutz garantierten. Das kann das Ziel einer Rationalisierungsmaßnahme nicht sein!

    So ist die Forderung nach einer Betriebsvereinbarung, die den Schutz für die einzelne Henne garantiert, eine von der Fuchsleitung nicht zu akzeptierende Forderung. Auch der Forderung, daß Rationalisierungsmaßnahmen nur in Gemeinsamkeit von füchsischer Geschäftsleitung und hühnerischem Betriebsrat durchgeführt werden dürfen, kann vom füchsischen Vorstand nicht entsprochen werden.

    Es würde den ganzen Synergieeffekt in Frage stellen, wenn überflüssige Hennen, nach der Vereinheitlichung der inneren Abläufe in den einzelnen Huhn-Bereichen, weiterhin den Hühnerhof bevölkerten und nicht einer füchsisch orientierten Bestandsreduktion anheimfallen würden.

    Wenn wir Entscheidungen treffen, muß stets das hehre Ziel im Auge behalten werden: Vergrößerung des Hühnerbestands als ganzes, Reduzierung und Dezimierung des Bestandes in einzelnen Bereichen. Hühner, laßt euch nicht verhetzen, seid rationalisierungsbereit! Wir Füchse sind es schon lange.

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  5. Der Stierkampf
  6. Gesetzt, die Corrida del Toro, der Kampf mit dem Stier, wäre ein komprimiertes Abbild des Kampfes der Existenz, der Stier der Mensch, die Arena die Kugel der Welt, die Kämpfer die Herren des Schicksals, die gaffende Menge die Höllenbrut, die es sich gelegen sein läßt aus jenseitigen Gefilden dem Schauspiel beizuwohnen, sich trotz der scheinbaren Unbeteiligtheit schwerste Schuld auf die Schultern lädt. Wenn der Stierkampf also, vom Augenblick an, wo der Stier den Zwinger verläßt und in die Arena stürmt bis hin zum Hinausschleifen des Stierkadavers das Dasein des Menschen darstellt - ich frage: Was ist dann der Mensch?

    Ist er ein Handelnder oder einer, der immer nur absenkt die Hörner ohne zu stoßen und zu treffen, ein Kämpfer oder nur ein Bekämpfter, ein Geführter vielleicht nur Genasführter, einer, der bunten Fahnen, gefärbten Meinungen, gedonnerten Propagandaparolen, ausgebrüteten Ideen hinterherrast, wild, wahnsinnig, überschäumend vor Wut, am Widersinn der Realität fast erstickend?

    Der Stier stürzt in die Arena. Rund ist sie geformt, zwei konzentrische Kreise gestalten das Feld, weit recken sich die Ränge, dicht an dicht mit Zuschauern besetzt, brütend die Hitze, wild die Musik, indifferent die Menge. Der Stier rennt durch die Arena, jung, kraftvoll, schnaubend. Seine Beinmuskeln spielen, Gebirgen gleich, raubkatzenhaft sind seine Attacken. Die Nebenkämpfer huschen hinter den Barrieren hervor, locken den Stier vier, fünf mal von Stelle zu Stelle, springen immer wieder furchtsam hinter die schützende Umzäunung, äffen den Stier und necken ihn.

    Schließlich stolpert der Matador in die Arena hinein, mit rotviolettem Harlekinsmantel, läßt den noch unverletzten, nur durch zwei kleine, ihm in den Nacken getriebene Nägel gereizten und um die Übersicht gebrachten Stier stürmen. Er stellt sich, den Mantel vor den Körper haltend, dem Stiere scheinbar dar. Dieser rennt auf den Torero zu. Der Torero führt das Tuch zur Seite, das Tuch gleitet dem Stier über die Hörner, sein Anlauf ist vertan. So stürmt der Stier mehrere Male.

    Ein Signal ertönt, im Hintergrund öffnen sich die Tore und zwei Pikadores, auf ihren Pferden, reiten in die Arena. Gespenstisch ist ihr Aussehen. Schemenhaft gleiten sie dahin, besetzen die ihnen vorgeschriebenen Plätze. Drohend stehen sie dort am Rande der Arena. Zum Schutz gegen die Hörner und die ungeheure Kraft des Stieres sind die Pferde auf der einen Seite von einer Matte umgeben. Damit sie nicht springen vor Furcht sind ihre Augen verbunden. So stehen sie, wie das urmächtige Schicksal, unverletzbar und blind, auf ihrer Stelle.

    Die Pikadores auf ihren Sätteln senken die Lanzen. Der Stier scheint zu ahnen, daß ihm hier, bei den Pferden, die ihn zermürbende große Gefahr droht, denn er hält sich ihnen fern. Aber nun treten die Nebenkämpfer in Aktion, locken den Stier immer näher an den Pikador heran und plötzlich zwingt etwas den Stier. Er rennt an, das Pferd wankt unter seiner Wucht. Der Stier hebt ungestüm das Pferd fast über die Barriere, sich dabei schwächend, die Kraft vergeudend. Der Pikador auf dem sicheren Rücken des Pferdes stößt die Lanze dem Stier in den Rücken, blutig rinnt es an ihm hernieder. Schließlich ein Signal! Die Kämpfer locken den Stier vom Pferde fort. Geisterhaft, wie sie gekommen, verschwinden die Pikadores durch die Tore.

    Der Stier ist gezeichnet. Die Geschmeidigkeit der ersten Sprünge ist vorüber. Das Blut läuft ihm in breiten Bahnen den Leib hinunter. Seine Zunge steht starr und weiß dem Maul heraus. Fäden von Geifer fließen aus seinen Nüstern. Nun jagen ihn wieder die Kämpfer, bis der Torero ihm die Banderillas wie bunte Fähnchen in den Nacken stößt. Da ist der Stier wie eine Possenfigur geschmückt, steht wie ein Narr, der vor lauter Trauer Späße treibt.

    Endlich kommt die letzte Prüfung für den Ermatteten. Hochmütig, geziert daherstelzend naht der Torero. Das Spiel, das den eigentlichen Kampf ausmacht, beginnt. Wie kämpft der Stier. Was bekämpft er und womit kämpft er? Der Stier rennt an gegen ein Schattengebilde, das rote Tuch. Die Muleta wird ihm breit und rot hingehalten und er stößt darauf zu. Der Stier kämpft nicht mit dem Torero, erkämpft mit dem Tuch! Ein Kampf mit dem Trugbild! Kann dies Kampf genannt sein? Der Torero kämpft, der Stier versucht zu kämpfen. Der Torero kämpft auch nicht, er steht in steifer Haltung da hüpft in Tanzschritten von Stelle zu Stelle, ein Hanswurst mit grimmiger Gebärde, und läßt den Stier rennen.

    Der Stier ist nun so, wie ihn der Torero braucht: ein Zerrbild einstiger Kraft. Ja wäre der Torero Manns genug, dem Stier zu begegnen in dessen wahrer Kraft, er könnte wenigstens Achtung erwarten für sein Gewerbe. So aber ist er nur Matador, Töter, ein ängstliches Menschlein, welches hinter seinem roten Tüchlein hervorlugt und zitternd hofft, daß der Stier nicht Kraft genug besitzen mag, sich gegen das Geschmeis zu verteidigen.

    Für den Torero und die Menge gliedert sich die neue Kampfphase in aufeinanderfolgende Figuren, die voll Glanz und Grandezza dem Stier aufgezwungen werden. Kann dies Kampf sein? Nein! Ein Schauspiel ist es, ein Schattenboxen, ein Spiel vielleicht mit der Gefahr. Aber handelt hier der Stier? Gewiß, er könnte andeln, wenn er nicht so töricht stur immer wieder nur das Tuch berennen würde, so berechenbar immer wieder den gleichen Stoß täte, die gleiche Wendung übte, die identische Bewegung vollführte. Wie eingeübt rast er in sein Verderben. Der Torero fächelt dem Stier das Tuch vor den Augen herum, daß dieser gänzlich apathisch wird. Er ist auch schon sichtlich geschwächt. Sein Kampf besteht im Verbluten und dem Nachspringen eines Phantoms.

    Würde der Stier wirklich Handelnder sein, so wäre das Spielgeschehen gestört. Ein zerfetzter Torero wirbelte durch die Arena, der Kampf müßte durch einen anderen Matador fortgeführt werden, eine mißliche Angelegenheit. Die Menge wäre trotzdem auf ihre Kosten gekommen. Aber so weit kommt es hier nicht. In ordentlichen, abgezirkelten Bahnen verläuft das Turnier. Appell, Attacke, immer wieder, bis schließlich der Torero den Degen, den er bisher zum Spannen des roten Tuches benutzte, zum Stoß erhebt. Der Stier weicht angstvoll zurück. Eine Ahnung scheint ihm zu sagen, daß nun die äußerste Gefahr droht. So versteckt der Torero die Klinge wieder und läßt den Stier wiederum laufen. Langsam gewöhnt sich der Stier dabei an die Todesgefahr, spürt vielleicht die Unbarmherzigkeit des Geschehens und fügt sich.

    Beim dritten Blankziehen der Waffe weicht er nicht mehr. Tapfer empfängt er den Stoß. Jedoch, wie der Tod so oft, er ist nicht gefällig. Das Herz ist ungetroffen geblieben und nun treten die Nebenkämpfer wieder in Aktion, auf daß sich der Torero vom Fehlstoß erhole. Drei an der Zahl umflattern sie den todwunden Bullen, umkreisen ihn wie Fliegen die offene Wunde, necken, quälen, umgaukeln seine Sinne. Schließlich geht der Torero zum Stier, zieht ihm die Klinge aus dem Leib. Der Stier, mit blutig schäumendem Maul, läuft ein letztes Mal an. Der Torero stößt zu. Matt sinkt der Stier in sich zusammen. Der Torero ergreift einen Dolch und tötet mit sechs raschen Stichen am Genick den einst so stolzen Bullen.

    Eifrig applaudiert die Menge. Eine große Tat ist geschehen. Eine Knechtsgestalt hat den Heroen besiegt! Der Torero wird mit Blumen überschüttet. Der Stier wird, nachdem man ihm den Skalp, nein die Ohren entfernt, von zwei Gäulen aus der Manege geschleift, eine blutige Spur hinterlassend.

    Ich frage noch einmal: Was ist der Mensch? Ist er ein Handelnder, ein Kämpfer oder nur Zeitvertreib für eine Welt der anderen, bösen, überlegenen Dimensionen? Ich wage die Frage nicht zu beantworten, denn gesetzt, der Mensch im Dasein käme dem Stier in der Arena gleich, was wären dann alle seine Taten und Leiden? Die Leiden der Menschen wären gewollt und echt, denn auch im Stierkampf betrachtet der Spanier echte Leiden der Kreatur, weidet sich daran. Jedoch die Ereignisse, auf die wir reagieren, wären nur ein Tuch, welches ein anderer schwenkt. Dieser andere, dessen Leib wir nicht sehen, auf den wir nicht stoßen können, weil er unangreifbar schemenhaft erscheint, erntet die Früchte unserer täppischen Bemühung. Zerschlagen fallen wir dem Tod anheim.

    Wie das Spiel gewinnen? Vielleicht, indem wir das scheinbar Gefährliche, die Sinne aufpeitschende, sie attackierende, das Sichbewegende, Sichwandelnde für unwichtig halten und auf das so unscheinbar Ruhige loseilen und so das in todbringender Starrheit Verharrende angreifen und vernichten. Und wenn nicht dies, dann Mensch: Schließ die Augen und schlag zu! Der Stier, der dicht beim Torero die Augen schlösse und um sich schlüge, wäre die äußerste Gefahr für den Popanz. Werdet irregulär in euren Gedanken und Taten. Seid dem Schicksal gegenüber nicht so brav und naiv, schlagt dorthin, wo ihr nie den Feind vermuten würdet - ich gebe mein Wort, ihr werdet den Kampf gewinnen.

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  7. Die Mathematik
  8. Stompani war einer von jenen, die sich der Wissenschaft verschrieben hatten, äh, spuck aus, der Mathematik. Es wirbelte in seinem Gehirnkasten nur so von Formeln. Vielleicht noch nicht glatt und sauber geschliffen, wie es sich gehörte, jedoch, was nicht war, konnte werden. Die Herren Professoren würden ihm den Stumpfsinn ihrer Thesen schon so einimpfen, daß er glauben würde, es bedeute die größte Wohltat, allein der Gaukelei, dem süßen Absurden der Mathematik in Reinheit sich hinzuopfern, nicht mehr zu fühlen, nur zu sinnen, aus dem Chaos der Möglichkeiten diejenige zu finden, die ein gewisses Verlangtes leistet, damit zu operieren, zu verwandeln und zu spielen.

    Es ist ein Spiel der Lüfte, ganz entgegen der Wahrheit, losgelöst von allen Tugenden. Eine Schlemmerei des Einfalls und der Ideen, aber nichts desto trotz ein Gaukelspiel, ein Fixum, welches nur sich selbst umfaßt, allein deshalb zur Berechtigung gelangend, weil es dem Menschen nicht gegeben ist, schwierige Gedankengänge ohne Stütze des Formalismus bewerkstelligen zu können.

    Dieses Formelhafte, Formhafte entzückte unseren Jünger der Wissenschaften, es regte ihn an, immer weiter in die Mathematik hineinzusteigen, immer tiefer scheinbaren Geheimnissen nachzuspüren. Es gibt aber keine absoluten Erkenntnisse für den Menschen, wie sollte er da Absolutes in dem mathematischen Kalkül finden, welches ein Werkzeug ist, Tieferes zu erfassen. Stompani liebte die Mathematik. Mit klarem Auge und sicherem Verstehen gedachte er, die Welt sich zu eigen zu machen, sie zu zwingen.

    Mit der Mathematik, der losen, zimperlichen, die dennoch im Innern so stolz, so ungebärdig tut, kann man keinen Flirt beginnen, ohne ernstere Absichten zu hegen. Ein jeder Flirt ohne Ernsthaftigkeit wird abgewehrt, er bleibt am Rande, wird weggeschoben, versandet. Die Mathematik ist streng, sie duldet kein Naschen, sie ist die äußerste Verkörperung der Keuschheit. Sie verlangt Treue und Gewissenhaftigkeit. Wer sich ihr nähert, muß sich entscheiden.

    Vielleicht, so denkt Stompani, gelingt es mir, sie zu überlisten. Ich schwöre ihr ewige Treue, doch ich überlege es mir, ob ich das Versprechen halte. Er hat dabei vergessen, daß die Mathematik ein Teil seiner Seele ist, daß sie sich in ihm breit macht, daß ihr Prinzip langsam und unaufhaltsam alle schwächeren Seelenakkorde zu übertönen vermag. Sie tötet die Poesie, löscht das zärtliche Gefühl. Alles neben der Mathematik wird zweitrangig, nebensächlich, nur weg damit, den Blick nur immer fein auf jenes Netz gerichtet, welches im Meere der Unendlichkeit nach Formeln fischt.

    Stompani ist so zweigeteilt, daß sich der Schwebezustand lange bei ihm halten kann. Es streiten sich in ihm zwei Prinzipien: Die Mathematik und das Gefühl, beide wild und begehrlich. Zuerst war das Gefühl übermächtig in Stompani, nun ist es die Mathematik. Aber morgen vielleicht schon schlägt das Gefühl zurück, reißt das ganze hohle Gebäude der Mathematik auf, wirft ihr sprühendes Leben in die Runde, daß für Stompani die Welt aufleuchtet. Halb ist er in der Mathematik gefangen, er zappelt im Netz, welches er sich selbst gebaut. Aber halb ist er noch frei und tummelt sich in der Freiheit der Empfindungen.

    Die Mathematik ist ein katzenhaftes Ding. Sie läßt sich umschmeicheln, zuerst gibt sie nur etwas Parfüm, elegante Sätze, vielleicht Zirkelschlüsse. Dann bringt sie Geometrien, dann Verknüpfungen und Abbildungen, beide dasselbe, wenn man es recht besieht. Sie erklärt eine Topologie, läßt Folgen konvergieren, ordnet Mengen, kettet sie untereinander. Nach kurzer Zeit blühen eigenartige Wortbilder auf: Archimedische Ringe, kommutative Schiefkörper, Gruppen, Systeme, Algebraen.

    Und diese sind die Träger der Axiome, jener luftigen Bosheiten, durchsichtig, doch unfaßbar, strahlend und doch undurchschaulich. Du kannst sie abwandeln, verändern, du kannst das ganze Axiomengebäude in ein anderes überführen. Ein paar Beweise, eine Transformation, eine Abbildung, eine Permutation sind nötig - alles bleibt beim alten. Vielleicht ist es ein Automorphismus, ein Isomorphismus, ein Endomorphismus. Das ist die Mathematik: Ein Objekt verändern und nachsehen, was ist unverändert geblieben. Absurdestes des Absurden, und doch: nützlich, begeisternd, verstrickend.

    Es ist eine Sphinx, die Mathematik, aus ihren unergründlichen Augen kommt viel, halb Licht, halb Schatten. Das Licht hebt den Schatten auf, der Schatten düstert das Licht zur Nacht. In diesem einzigen Zwiespalt, in dieser Disharmonie des Inhaltlichen bewegen sich die Geister, die der Mathematik sich verschrieben. Es ist ein Wahnsinn. Sie singt nicht, lacht nicht, vielleicht lockt sie nicht einmal, und dennoch fliegen die Aufwärtsstrebenden ihr zu. Sie tasten, stolpern wie Blinde und merken nicht, daß die Angebetete nackt ist. Eine nackte Schönheit, die Mathematik: männlich, lüstern, männeranlockend.

    Sie will erobert sein. Wer mit ihr eine Nacht im Bette schlafen will, der muß ein Held sein. Es nützt nichts, sie zu umschmeicheln, sie zu betören, sie zu versuchen. Mit einem einzigen Gewaltstreich, mit einem kühnen Griff muß sie gebändigt werden. Mit Zwang und wilder Lust muß aus ihrem Leibe ein neu Geschlecht, ein neuer Sohn, das Neue herausgepreßt werden. Es verbinden sich Original und Bild zu einer Einheit. Die Funktion ist geboren. Strahlend geht sie zu klären, zu erklären. Sie schlägt Brücken zwischen fernen Welten. Nun ist es ein Ding, ein einziges, sich selbst zur Zierde, eigen nur sich selbst.

    Nun kommt auf rasenden Rossen herbei das Integral. Es ist wie des Eros blutvoller Zwang. Der Strudel der Allgegenwart saugt die hinschwindenden Differenzen bis zum Endlichen hinauf, schlingt, verschlingt die Leiber, welche fielen, glitzernd und bodenlos. So rafft das Integral Raumsplitter, wirre, verworrene Teile der Figur, des formelgeprägten Bodens, schnürt und verändert, teilt in allen Möglichkeiten die Felder auf und faßt sie wieder zusammen.

    Es bleibt: Eine Zahl! Größtes Ereignis, aus verworrenem Sinn jenes faßbar Unfaßliche zu gewinnen. Die Zahl ist so rundherum schön, so ganz neu in jedem Augenblick, so selbstverständlich in ihrem Dasein, daß sie sich selbst zu erfüllen scheint.

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  9. Die Faust
  10. Die Nacht war tief verhangen und ich erwachte. Durch die Scheiben glitzerte der Mond, die Schatten huschten vorüber. Da, meine Hand, bewegte sich, schien zu leben, aber in anderer Weise als sonst. Sie vibrierte, pulste und da, langsam formte sich aus Urschleim, so schien es, ein eigentümliches Gebilde.

    Es blähte sich die Faust, bis sie zu einem runden Ding geworden war, hin- und herpendelnd die Herrschaft an sich riß und da, ich stierte sie an, ward sie zum Haupt, zum Menschenkopf. Erst blaß, blutleer, faltig, dann aber langsam voller, runder werdend bekam es beklemmende Lebendigkeit, bewegte Mund und Augen.

    Meine Hand, wie Eis, schien einer fremden Welt anzugehören. Ich schrie, hielt die andere Hand vor meine Augen, wehrte ab das grausame Schreckgespenst, wollte es verjagen, doch wie? Angewachsen war es doch, selbst Teil meiner selbst, ließ es sich nicht entfernen.

    Ich schlug mit dem Arm, auf dem sich das fremde Wesen eingenistet, auf die Kante des Tischs. Eine rote Spur zog sich über das Gesicht sofort und ich, gepeinigt von wahnsinnigem Schmerz, kämpfte um die Besinnung.

    Aber das Schreckliche weiter sehen zu müssen, niemals, so dacht ich. Ein Tuch nahm ich, stülpte es über die Faust, die nun zum Kopf geworden. Endlich allein! Die Gedanken jagend, versuchten sich zu ordnen. Was anfangen, was beginnen?

    Unter dem Tuch rumort es. Aber ich gebe nicht nach, denn nun gilt es. Die Gefahr wird ungeheuerlich. Ich laufe gehetzt durch die Straßen. Töne kommen auf, Gebrüll - da eine Menge, ich stolpere durch ihre Reihen, immer enger, vorwärts zu ihrem Kern.

    Man redet, schreit Parolen, donnernd rauscht Applaus zum Podium. In meiner Faust, unter dem Tuch, vibriert es, ich wehre mich, leiste letzten Widerstand. Aber übermächtig zuckt es durch meinen Nerv.

    Alles steuert nun vorwärts. Drang wächst ins Ungeheure. Und nun hinauf aufs Podium und nun mit einer ruckhaften Bewegung reißt die freie Hand die Bedeckung fort. Die Faust mit dem Kopf kommt zum Vorschein, blutig und rot, und spricht zur Menge und schreit und heult wütende Gewalt in die Masse hinein, daß sie wie von Furien gepeitscht losbricht in orkanartigem Geheul.

    Nun denn Wogen des widerstandslosen Andersseins greift von mir Besitz. Da nun jener Kopf, der erst ein anderer schien als ich, sich aufschwingt mich und euch zu beherrschen, fließt Blut an ihm hinab, spült alle Warnungen hinweg!

    Die Woge der Menschen rennt über das Feld, wandert in meinem Zwang. Und dort der Kopf nun, riesenhaft groß gewachsen zu schreckhaftem Ausmaß, donnert die Sprache wie Sturmgewalt, reckt sich drohend hinan.

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  11. Oh Gott , es lebt!
  12. Das war mal eine informative Fernseh-Reportage. Überschrift: "Das Jahrhundert der Roboter" mit der Beigabe: "Künstliche Intelligenz - mehr als ein (Alb)-Traum." Der obige Ausruf bezog sich dabei auf einen Komputerianer, der als blecherne Zukunftsvision durch das Fernsehstudio stapfte.

    Da wurde dann die Frage gestellt: "Gehören Roboter in ca. vierzig Jahren zu unserem Alltag, wie es führende Wissenschaftler prophezeien? Können Mensch und Tier einfach nachgebaut oder gar ersetzt werden? Der Mensch ein Auslaufmodell der Evolution, der durch die weit höher gestalteten Blechmänner einfach zur Seite gedrängt wird?"

    Das interessierte mich denn doch. Wie könnte das ganze aussehen? Wie löst man das Problem der Nachkommenschaft? Wie sollte zB. ein Topfdeckel sich selbst reproduzieren? Selbst wenn er noch so schön klappert, ein paar Kindertopfdeckel bringt er nicht zustande. Aber nein, warum sollen die Blechmännchen sich selbst herstellen. Es gibt doch schließlich Menschen! Die werden wie heute Legehennen in Batterien untergebracht. Nur daß sie keine Eier legen, sondern Roboter herstellen. Platzsparend, umweltfreundlich, funktionell!

    Es geht aber noch viel eleganter. Schaffen wir die Menschen ab. Bewältigen wir die Reproduktion der Komputerianer mittels industrieller Großanlage. Nicht das einzelne Roboter-Individuum reproduziert sich, sondern die Roboter insgesamt. Das läuft, das ist gar keine Frage. Ist irgendein technischer Fortschritt in der onstruktion der Roboter zu verzeichnen, werden die neukonstruierten Module einfach an Stelle der alten eingebaut.

    Rennen die Roboter beispielsweise ewig mit der Blechnase gegen die Türpfosten in den Wohnanlagen, wobei sich das Problem noch dadurch verschärft, daß diese Pfosten aus Haltbarkeitsgründen ebenfalls aus Stahl sind, so kann es nicht ausbleiben, daß zuletzt alle Roboter mit angeditschter Nase herumlaufen. Das wäre natürlich gegen jede roboterisierte Ästhetik. Das darf nicht sein! Also gibt es einen Zusatzchip mit der Funktion: Bei Auftauchen eines Türpfostens abbremsen und Hindernis umlaufen.

    Ja, der technische Fortschritt. Die Veränderung und Anpassung an sich verändernde Verhältnisse. Was stagniert, stirbt! Also müssen die Komputerianermännchen sich immer wieder neu erfinden. Das ist leichter gesagt als getan. Bei der industriellen Herstellung des Komputerianernachwuchses könnte schon irgend so ein genetischer Computer-Virus ins neuronale Netz der Roboter-Innenausstattung eingeschleust werden. Was dann? Dann hauen sich die Roboter gegenseitig ihre Blecharme um die Plastikohren.

    Was sie brauchen ist ein unzerstörbarer Kern. Ein Nukleus des Innenapparates, der weder verändert werden noch verändert hergestellt werden darf. Natürlich muß dieser so beschaffen sein, daß heut und auf ewig keine Notwendigkeit besteht, ihn abzuändern. Das hat etwas mit der Sinngebung der künftigen Komputerianer zu tun. Sinn des Roboters ist die dauerhafte Aufrechterhaltung seiner elektronischen Prozesse. Das ist es!

    Tja, aber auch Komputerianer werden nicht darum herumkommen, sich ein ganzes Sortiment an Microchips, Klein-, Mittel- und Großcomputer zu halten, mit deren Hilfe erst das Gemeinwesen der Komputerianer funktionieren wird. Die haben doch auch elektronische Prozesse im Inneren. Sollen die auch dauerhaft konserviert werden?

    Doch wohl kaum. Das betrifft das Problem der Motivation, Perspektive oder sagen wir hochtrabend, der Weltanschauung. Komputerianer brauchen eine Perspektive, die ihrem Dasein Sinn gibt. Ohne Sinn sind schließlich alle möglichen Aktivitäten gleich gut und gleich schlecht. Das bedeutet aber, daß der Komputerianer auch gleich alles sein lassen könnte. Er begibt sich in eine Besenkammer, gibt der elektronischen Zelle in sich den Befehl: Ausschalten!, rappelt noch mal bedenklich und steht dann still, bereit über die Jahre hin einzustauben, zu verrosten, innerlich durch die auslaufende Batterie zu korrodieren. Aus, Ende, finito bella musica!

    Apropos Musik. Oder besser Empfindung. Was der Komputerianer braucht, ist Empfindung. Das würde seinem Dasein den Halt geben, der die drohende Gleichgültigkeit von ihm bannt. Wie aber diese im elektronischen Gedankenapparat des Roboters installieren? So ein Roboter besteht schließlich nur aus elektronischen Schaltelementen, die nur wenige Funktionen wirklich perfekt ausführen können. Das sind Speicherungs- und Logikaktionen.

    Da aber jede logische Operation durch eine Speicherungsoperation ersetzt werden kann, Speicherung aber letztlich als Herstellung von Kopien gedeutet werden kann, wäre ein Fotokopierer der ultimative Empfindungsapparat. Wer hätte aber je von einem Fotokopierer gehört, dem vor Angst der Toner in das Räderwerk geflossen wäre. Das hätte eine schöne Schweinerei gesetzt. Ist bisher aber nicht geschehen.

    Mit meinem Latein war ich also zu Ende, dabei hätte ich den armen, klobigen Komputerianern so gern eine menschenähnliche Seele ins Computerhirn gepflanzt. Wer konnte mir hier Hilfe und Rat bieten? EDV-Spezialisten würden wohl kaum einen Ausweg aus dem Dilemma zeigen können. Eher schon die, deren ganzes Sinnen und Sehnen auf die Veredelung der Seele gerichtet ist. Bei einem Fakir wurde ich pfündig.

    Er saß da, traumverloren auf seinem Nagelbrett und ließ die Gedanken in ekstatisch weite Fernen schweifen. Nachdem ich ihn aus seiner Versunkenheit losgeeist hatte, er nach einigen Mißverständnissen das eigentliche Problem kapiert hatte, lächelte er erst mal und sagte: Toren der Traumwelt, kaum tritt ein kleines Problem in euer Gesichtsfeld, schon seid ihr verloren. Dabei ist alles so einfach.

    Ich spitzte die Ohren. Einfach war es, umso besser. Vielleicht kam mein Komputerianerfreund doch noch zu seiner Seele. Der Fakir sagte: Auch die menschliche Seele ist nicht dort vorhanden, wo sie der moderne Mensch vermutet, also im menschlichen Körper, sondern in einem anderen Bereich. Die Brücke dahin bildet ein Fluidum welches die Eingeweihten als Astralbereich bezeichnen. Willst du also deinem Komputerianer eine Seele beigeben, mußt du die Brücke dahin in diesem Astralbereich bauen.

    Wie soll das geschehn? fragte ich. Ist er uns zugänglich? - Nicht direkt, antwortete der Fakir, aber mit spezieller Technik sollte es wohl gehen. Das Hauptproblem ist die besondere Kleinheit der Teilchen dieser Astralsphäre. Die den heutigen Physikern bekannten Teilchen sind nach dem benannt, was als das Belanglose schlechthin gilt, also Weißkäse oder Quark. Sie heißen deshalb Quarks. Genannt so wahrscheinlich aus einem momentanen Anfall von Humorhaftigkeit heraus. Aus Sicht der Astralebene sind das aber ganz klobige Gebilde, ungeeignet, etwas so feines wie die Seele an den Körper zu binden. Da benötigt man viel feinere Teilchen. Ich möchte sie Quiekse nennen.

    Um die aus Quieksen gebildeten Astral-Schleier herzustellen, braucht man nur eine richtig alte Kaffeemühle, nicht eine von den neumodisch muckernden elektronischen, sondern eine robuste Mühle mit stabilem Mahlwerk und festem Schwengel. Dann benötigen wir noch Elektronikschrott, also Dioden, Kondensatoren, Transistoren, alles in Microships eingegraben und eingeätzt. Die kommen in die Mühle hinein. Und dann mit Vehemenz und Rasanz wird das alles zur Kleinheit von astralen Quieksen zerhackt und zerrieben. Alles übrige besorgen dann die Geister im astralen Bereich.

    Vernommen und ausgeführt. Die Mühle wurde besorgt, der Elektronikschrott gemahlen. Der Fakir, ins Jenseits blickend, berichtete vom Geschehen. Offensichtlich war die gesamte Astralwelt im Aufruhr. Das Transistorengehäcksel waberte wie eine übel riechende Wolke zwischen den leuchtenden Astralgebilden hin und her. Einige unerschrockene Astralwesen formten, sich die astrale Nase zuhaltend, die notwendige Brücke zu einer freischwebenden Seele.

    Der Komputerianer begann zu sprechen: "Ich empfinde, darum bin ich. Nicht aus Lehm, sondern aus Sand geschaffen. Durch mich wird die neue Zeit erstehen." Sprachlos stand ich, dann entfuhr es mir wie ein Schrei: "Oh Gott, es lebt"! Ich umarmte den Computer, drückte ihn an meine Brust. "Aua", entfuhr es mir, "du bist ziemlich hart" Welch eine Glorie, welch ein historischer Augenblick.

    Der Fakir, nicht ganz so enthusiastisch, blickte noch einmal ins astrale Gefild hinein. Was er da sah, ließ seine Stirn sich in Falten legen. "Ach, nichts auf der Welt ist von Dauer", sagte er "Ich dachte, mit der Entstehung von Komputerianern wäre das Fakir-Problem endgültig gelöst. So ein Roboter könnte doch weit besser als unsereins sich auf Nagelbretter setzen, ohne auch nur eine winzige Wunde davonzutragen. Vertan! Nichts ist vollkommen."

    Wie von ihm erkannt kam es. Der Elektronikstaub wurde den Astralwesen in einer Weise lästig, daß sie beschlossen, ihn postwendend wieder in die Grobstofflichkeit zurückzuspedieren. "Mir wird auf einmal so übel", klang es vom Computermännchen her, "Mir wird angst, alles stirbt ab, mein Empfinden trübt sich, ich vergehe, mein Bewußtsein schwindet, es war nur ein kurzer Traum, der mich zum Dasein führte, es wird Nacht, Kälte umgibt mich, von Dunkelheit umgeben sterbe ich, ja, das ist der Tod!"

    Der Computer rappelte noch einmal, dann war er still. Ich öffnete das Gehäuse, drang bis zum Prozessor vor. Doch was war das? An, besser gesagt in die Elektronik der zentralen Schaltstelle hinein war ein glänzender Gegenstand eingeschmolzen. Als ich ihn faßte, löste er sich ab. Matt glänzend lag er in meiner Hand. Silizium dachte ich, was könnte es anderes sein. Geformt wie eine Träne, anrührend, mitleiderregend.

    Kleine feine Seele im Jenseitsbereich. du hast dir den falschen Leib gewählt. So ein Elektronikkasten ist denn doch nicht die ganz geeignete Form Dasein im Diesseits in gang zu setzen! Bevor die Ära der Roboter begann, ist sie also schon zu Ende. Traum oder Albtraum - nie und nix ist es wohl mit der ganzen Komputerianerei. Und wie es mir scheint, gilt das auch für alle Zukunft.

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  13. Die ultimative Begabung
  14. Mein lieber Schnipp-Schnapp, du fragst mich allen Ernstes, welchen Berufsweg du nach erreichter Mündigkeit nun einschlagen sollst. Da wollen wir doch einmal sehen, was du so für Fähigkeiten besitzt, die du in diese Unternehmung einzubringen vermagst. Also mit dem logischen Denken ist es wohl nicht weit her bei dir. Schließlich bist du über die dritte Klasse Sonderschule nicht hinausgekommen. Früher sagte man ja Hilfsschule oder auch Dofenschule - na du weißt selbst, daß du kein besonderes Licht in der Schule warst.

    Die niederen Tätigkeiten, die ein besonderes Maß an Intelligenz verlangen, sind dir also verschlossen. Es kommen nur höher gestaltete Berufe infrage. Etwa die Politikerlaufbahn, das höhere Unternehmensmanagement, vielleicht sogar die Offizierslaufbahn oder gar der Weg des Geistlichen hin zu Bischoff oder Kardinal! Die Tiara, Schnipp-Schnapp, würde dir gewißlich blendend zu Gesicht stehen.

    Nun soll man einen Beruf ja nicht nur deshalb ergreifen, weil einem gewisse Fähigkeiten fehlen, sondern weil man spezielle Möglichkeiten und Anlagen in sich trägt, die gerade für diesen Beruf von unabdingbarer Notwendigkeit sind. Da frage ich dich doch gleich einmal: welche Fähigkeit ist dir gegeben, die dich vor allen anderen Menschen auszeichnet. Was, du weißt keine. Na das gibt es nicht. Jeder, aber auch jeder hat mindestenz eine Besonderheit, die ganz allein ihm zukommt. Sonst wäre er ja kein Individuum. Na was ist? Immer noch keine Idee, was dich aus allem heraushebt?

    Ich seh schon, auch die reflektive Selbstdiagnose ist dir im Wesen fremd. Also werde ich dir auf die Sprünge helfen müssen. Vielleicht daß deine Erscheinung, das Bild, das du in der Öffentlichkeit abgibst, einen Hinweis auf dein künftiges Wirkungsfeld enthält. Also, wenn ich dich so betrachte, erscheinst du mir wie zusammengewürfelt. Jedenfalls in der Kleidung.

    Unten knallgelbe Schuh, neuestes Modell, darüber Jeans, blaue Steinwaschware, altersgebleicht und ausgefranst. Dann ein blaugetöntes Smokinghemd, sehr flott, mit grünchangierender Fliege. Als Blazer eine alte Fliegeruniformjacke, kakifarben, um die Schulter drapiert ein Seidenumhang mit gold-violetter Schärpe. Du wirst zugeben, lieber Schnipp-Schnapp, wenn man dich so einem Herrenausstatter präsentiert, muß man um seine Sehschärfe bangen.

    Offenbar bist du ein Gigant an Geschmacksdivergenz, deine dir innewohnende modische Kombinationsfähigkeit grenzt geradezu ans Wunderbare. Das aber können wir ausnutzen, um dich auf den rechten Berufspfad zu führen. Über Geschmack läßt sich streiten, bei dir mündet jeder solche Streit in lähmende Sprachlosigkeit intellektuelle Verwirrnis. Jeder nur halbwegs normale Erdenwurm wird sagen, daß ihm hier ein Phantom modischer Irregularität begegnet, dessen Existenz schlicht abgeleugnet werden müsse.

    Es ist aber alles real! Ausgehend von dieser Realität extravaganter Geschmacksprägung, die dir zweifelsfrei in die Wiege gelegt wurde, läßt sich nun ein Berufsbild anvisieren, welches dich zu höchstem Gipfel beruflicher hinzuführen geeignet ist. Nennen wir deine besondere Begabung der Einfachheit halber Geschmacksabnormität. Du bist offenbar ein Genie in Geschmacksperversion. Man könnte das ganze auch als ultimativen Kuhgeschmack kennzeichnen. Was beruflich damit nun anfangen?

    Wegen der geradezu außergewöhnlichen Stärke dieser Begabung kommt meines Erachtens nur ein hochkünstlerisches Wirkungsfeld in Frage. Aus Gründen deiner Intelligenzschwäche sollte der Job dir allerdings keine substanziellen Ergebnisse abverlangen. Mein Vorschlag wäre: Geh ans Theater. Aber nicht als Schauspieler oder Regisseur, sondern als der Neumodernen verschworener Bühnenbildner und Requisiteur!

    Wer erinnert sich nicht an die grandiose Aufführung Verdis Aida in der Hamburger Oper, in der das spätere Grabmahl von grell-violett strahlenden Neonröhren eingerahmt wurde. Das war große Theaterschau, da wurde bürgerlicher Mief per Kaltlicht hinweggeflutet. Da war es schon beinahe zuviel, daß an einer besonders yrischen Stelle der Oper eine Garde von Krüppeln in Rollstühlen die Szenerie bevölkerte. Aber doch - welch kühner Gedanke - wie da Behinderte von ihren Krankenschwester in Altägypten hin und hergeschoben wurden, wobei sie es sich nicht nehmen ließen, auch mal ab und zu den jungen Dingern in den Po zu kneifen. Das war auf die Bühne transferierter Neu-Geist!

    Und dann in Lübeck! Hänsel und Gretel. Humperdingks Musik ließ die Herzen schmelzen. Die Kinder erwachen, Waldseligkeit keimt auf, scheu, geheimnisvoll, was erblicken Hänsel und Gretel und nun auch die Kinder im Zuschauerraum? Ein Knusperhäuschen, doch nicht eine der ewig schon betrachteten und gehabten Pfefferkuchenhütten. Nein, es ist ein Gebäude aus blinkenden Blechschindeln. Sie hängen mehr oder weniger verdrahtet an einem Baugerüst, aus best verzinktem Stahl aufgebaut, versteht sich. Daß Hänsel beim Versuch, von einem der Knusperkuchen zu naschen, sich fast die Zähne ausbiß, steigerte nur den theatralischen Effekt.

    Und dann im gleichen Haus die tolle Aufführung der Fledermaus. Wie da im Haus Eisensteins ganz wie zufällig ein chromblinkendes Trecking-Sportfahrrad in der Mitte des Saales an eine Säule gelehnt war, das war schon irgendwie gekonnt. So richtig lässig zeitenübergreifend.

    Oder im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Prinz von Homburg. Da schreitet man zur Schlacht. Läßt die Fanfare blasen. Der Prinz sagt die unsterblichen Worte "Caesar Divus, an deinen Stern heft ich meine Leiter", Man denkt als kleinkarierter Zuschauling, daß jetzt die in Kampfkluft gekleidete Militärhorde die Bühne stürmt. Aber nein. Die Leute sind in feinsten Zwirn gekleidet, Abendanzug und so. Mit Schlips und Collage-Mappe, so, als wären sie gerade auf dem Weg zur Vorstandssitzung. Tja, das ist modernes Theater, so müssen die Stücke heute dargestellt werden, damit sie dem Publikum gefallen.

    Deine Aufgabe, mein lieber Schnipp-Schnapp, wird sein, alles Unpassende und extrem nicht hineingehörende in Kulisse und Requisite eines aufgeführten Stückes zu plazieren. Deine großartige Begabung für unangemessene Kombinationen wird dir dabei helfen. Dein Genie in Sachen Geschmacksverirrung wird dich nicht im Stich lassen. Denk immer, was es nicht geben darf, gibt´s nicht. Peinlichkeiten sind da, um verübt zu werden.

    Wer meint, Theater und Oper würden auch deine stilistischen Fehlkompositionen überstehen, wird sich nach Jahren und Jahrzehnten der Zerbröselung künstlerischer Gesetze eines besseren belehren lassen. Deine Schuld ist dies nicht. Denn schließlich sind es die Zuschauer, die deiner Destruktion Beifall spenden und ihrer Hirnlosigkeit Rückhalt geben. Du machst deinen Job - die anderen haben den Schaden!

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  15. Ich erschoß John F. Kennedy
  16. - Der Kennedy-Mörder bricht nach 37 Jahren sein Schweigen

    Viel ist über den gewaltsamen Tod von John F. Kennedy am 22.11. 63 geschrieben worden, doch erst jetzt fühle ich mich, als der Verursacher des Geschehens, aufgerufen, die wahren Fakten der Weltöffentlichkeit darzulegen. Es sind seitdem nun fast 37 Jahre vergangen und ich meine, daß vielleicht ein klärendes Wort endlich und ein für allemal Klarheit in diese Sache bringen wird.

    Als gebürtiger Amerikaner habe ich stets die Gesetze unseres Landes hochgehalten und zu allen Zeiten amerikanische Lebensart praktiziert. So kam ich denn fast zwangsläufig zum amerikanischsten aller Berufe - zur Kopfgeldjägerei. Die Sache ist ganz einfach. Will ein Angeklagter gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt werden, hat aber das dafür erforderliche Geld nicht parat, so schießen wir das Geld gegen eine entsprechend hohe Verzinsung vor.

    Zwar ist es unser Risiko, wenn der Angeklagte nicht zum angesetzten Termin erscheint, dafür darf der Flüchtige aber per Kopfgeldjagd wieder eingefangen werden. Der Kopfgeldjäger besitzt dabei das über normale Polizeikompetenz weit hinausreichende, vom Gesetz verbürgte Recht, den Flüchtigen zu verfolgen, dazu in beliebige Häuser einzudringen und bei dieser Verfolgung auch von der Schußwaffe gebrauchzumachen. Kommt ein Unbeteiligter dabei dem Kopfgeldjäger in die Quere, so ist es sein Risiko. Auf ihn braucht der Verfolger keine Rücksicht zu nehmen.

    Ich hatte damals einen Flüchtigen zu verfolgen, der mich schon einige Male an der Nase herumgeführt hatte. Meine Geduld war erschöpft - ich schwor mir, bei nächster sich bietender Gelegenheit ihn tot oder lebendig dingfest zu machen. So hatte ich den Kerl bis nach Dallas verfolgt. Dort war er zunächst untergetaucht. Ich bekam aber von einem Informanden Nachricht, wo er zu finden sei.

    Für Politik habe ich mich nie interessiert. Nur am Rande hatte ich erfahren, daß der amerikanische Präsident gerade Dallas einen Besuch abstattete. Mochte er. Mich ging das nichts an, ich hatte meinen Job zu tun. Der führte mich auf einen Hügel am Rande eines Platzes, an dem auch Kennedy vorbeikommen mußte. Ich starrte in die Menge, um den von mir Verfolgten zu entdecken. Neben mir waren zwei, mit Gewehren im Anschlag, die angestrengt ebenfalls in die gleiche Richtung blickten.

    Da kam auch schon der Konvoi von Kennedy und plötzlich sah ich meinen Mann. Er bewegte sich direkt auf die Wagenkolonne zu. Sollte er mir wieder entwischen? Ich hob meine Waffe. Und siehe, die beiden Männer neben mir schienen mich unterstützen zu wollen. Auch sie hoben ihre Gewehre. Da, der Kerl wurde sichtbar, genau vor einem der Wagen des Konvoys. Ich schoß, die beiden neben mir ebenfalls. Caramba, das waren Schüsse!

    Meinen Mann hatte ich verfehlt, den Präsidenten dafür erwischt. Vorn in die Stirn getroffen wurde er zurückgeschleudert, ehe er vornübersank. "Sie haben den Präsidenten der Vereinigten Staaten erschossen" sagte der eine neben mir. "Verdammt, das war ein Versehen, ich bin Kopfgeldjäger, ich hatte einen Delinquenten im Visier.", sagte ich, "vielleicht ist der Präsident ja auch nur verwundet". "Der ist hin" sagte der zweite" und steckte sein Gewehr mit noch rauchendem Lauf in ein Futteral hinein. Dasselbe tat dann auch der zweite.

    Ehe wir uns entfernen konnten, war Polizei herangekommen, die uns in ein Polizeiauto zerrte. "Wir sind Angehörige der CIA", sagten die beiden, und zückten ihre Ausweise. Damals war es noch nicht so bekannt, daß die CIA irgendwo zwischen Geheimdienst und Maffiaorganisation rangiert. Daher brachte man ihnen eine gewisse Hochachtung entgegen. Beide wurden dann auch gleich nach unserer Ankunft im Polizeirevier freigesetzt.

    Vorher hatten sie aber noch bestätigt, daß mein Vorgehen ganz untadelig war. Ich hatte einen flüchtigen Delinquenten verfolgt und der Präsident war mir dabei schuldhaft in die Quere gekommen. Solange ich mich im Hintergrund hielte, keine Bekenntnisse verbreitete, auch keinen Zeugen für das Geschehnis zur Tatzeit um mich herum abgäbe - solange würde ich von offizieller Seite unbehelligt bleiben. Man würde mich ganz aus dem Polizeiprotokoll entfernen, dh. schon das Protokoll selbst würde vernichtet werden. Selbstverständlich gab ich ihnen das Versprechen.

    Für mich war die Sache damit abgeschlossen. Aber als man einen gewissen Lee Harvey Oswald verhaftete und als Täter diagnostizierte, war mein Interesse doch geweckt. Man hielt an dieser Vorstellung auch dann noch fest, als man in einem Nitrattest, der am Tage seiner Verhaftung angestellt wurde, unwiderlegbar nachwies, daß Lee Oswald in den letzten vierundzwanzig Stunden keine Waffe abgefeuert hatte. Das war mir auch klar, denn ich hatte ja geschossen.

    Noch etwas geschah. Die beiden Männer, die neben mir gestanden und geschossen hatten, waren zuvor aus einem Wagen gestiegen. Der Fahrer war mir zunächst unbekannt. Doch als dann Jack Ruby den vermeintlichen Mörder Oswald vor laufender Kamera im Keller eines Polizeireviers in Dallas erschoß, wußte ich: Das war der Mann, der jenes Auto gefahren hatte. War das ein Zufall?

    Es gingen offenbar Dinge vor sich, die einem normal-geistigen Gehirn schwer nachvollziehbar waren. So glaubte ich, daß ich gut daran täte, mich über die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft auf dem Laufenden zu halten. Ich studierte alle Presseberichte, die sich auf den Tod John F. Kennedys bezogen. Und ich hatte noch einen Informanden aufgetan. Von einem früheren Kollegen, der in der Untersuchungskommission tätig war, die Kennedys Tod untersuchte, erhielt ich laufend weitere Berichte über den Fortgang der Ermittlungen.

    Die Untersuchung wurde durchgeführt von einer Kommission unter der Leitung des Bezirksstaatsanwalts in New Orleans, Jim Garrison. Letzterer kam dann zu dem Schluß, daß eine Verschwörung dem Tod Kennedys zugrunde lag. Diese von ihm vertretene Ansicht bekam ihm offensichtlich schlecht. Er wurde von der Regierung fälschlicher Weise der Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung beschuldigt, von der Presse als Scharlatan und Kommunist verleumdet. Der Erfolg war, daß Garrison die Wiederwahl zum Bezirksstaatsanwalt in New Orleans verfehlte.

    Garrison hatte herausgefunden, daß die dem Tode Kennedys unmittelbar folgenden Untersuchungen eher als Spurentilgungs- und Vernebelungsaktionen anzusehen waren. An diesen Pseudountersuchungen waren sowohl die Presse als auch die Regierung mit Polizei, der Ärzteschaft des Militärs und den Geheimdiensten CIA und FBI beteiligt. Außerdem war da noch die sogenannte Warren-Kommission, die hauptsächlich aus solchen Mitgliedern bestand, die den Geheimdiensten FBI und CIA positiv gegenüberstanden, die also ganz und gar parteilich ermittelte.

    Zunächst die Presse. Die vielen Filmaufnahmen, die von dem sogenannten Attentat von Privatpersonen gedreht wurden, kamen zunächst überhaupt nicht an die Öffentlichkeit. Ein Augenzeuge namens Zaprunder hatte das Geschehen gefilmt und der Zeitschrift Life übergeben.. Dieser Film wurde von der Zeitschrift fünf Jahre lang in einem Tresor versteckt. Dabei sieht sich die Presse doch als Garant für Meinungsfreiheit und frei fließende Information.

    Ein Militärarzt führte eine Autopsie des Leichnams des Präsidenten durch. Er legte das Gehirn des Präsidenten in Formalin ein. Nach der dadurch erreichten Härtung des Gehirns hätte man die Richtung bestimmen können, aus der die tödlichen Schüsse fielen. Doch das Unglaubliche geschah: das Gehirn des Präsidenten verschwand spurlos, einfach so! Und der Pathologe, welcher die Autopsie Kennedys leitete, verbrannte die erste Ausfertigung des Autopsieberichts zu Hause in seinem Kamin.

    Auch die Polizei von Dallas tat sich hervor. Noch bevor die Warrenkommission ein Urteil fällen konnte, schloß sie den Fall nach dem Tod des vermeintlichen Attentäters Oswald sofort ab. Das FBI akzeptierte dies Vorgehen und legte den Fall nach einigen Wochen zu den Akten. Schließlich bestätigte die Warren-Kommission die Untersuchungsergebnisse von Polizei und FBI knappe zehn Monate später.

    Jim Garrison, der die Untersuchung der Ereignisse, die mit Kennedys Tod zusammenhingen, aus einer zufälligen Beobachtung heraus begann, kam zu dem Schluß, es habe eine Verschwörung von CIA und Exilkubanern gegeben, die zu einem gezielten Mord am Präsidenten führte. Er kam auch zu dem Schluß, daß das eigentliche Motiv für eine solche Hinrichtung die auf Entspannung gerichtete Politik Kennedys war.

    Garrison wußte nicht, daß Kennedy das Banksystem der USA aus der Verfügungsgewalt einiger maffioser Milliardäre in die staatliche Obliegenheit zurückführen wollte. Er hatte dazu schon die entsprechenden Schritte unternommen. Das sprach das Todesurteil über ihn! So, wie sein Vater es ihm im Weißen Haus prophezeit hatte.

    Ich allerdings meine, man sollte sich nicht so sehr um Motive kümmern. Leute, die John F. Kennedy den Tod an den Hals wünschten, gab es genug. Sicher, auch FBI und CIA waren mit dabei. Aber waren sie fähig, den Kopf der Verschwörung abzugeben? Ich sage nein. Sie waren alles in allem nur subaltern. Die Frage lautet nicht, wer hatte ein Interesse daran, Kennedy umzubringen, sondern wer in den USA hatte die alles bezwingende Macht, ein Komplott dieser Größenordnung aufzubauen.

    Es ist klar, daß man die Mitglieder des Komplotts, welches die Ermordung Kennedys im Auge hatte, an einer Stelle zu suchen hat, die sich nicht in ausführenden Organen der Staatsgewalt befindet. Darauf deutet auch die Tatsache hin, daß im Laufe der Ermittlungen Garrisons eine ganze Schar von Wissern und Mitwissern aus dem Wege geräumt wurde.

    Wer in den USA hat die Macht, eine so große Zahl von Morden zu veranlassen und sicher zu sein, daß keine Indiskretion ihn selbst ans Messer der Justiz zu liefern vermag? Es gibt nur eine Macht, die solches zu leisten vermag - die Insidergruppe der Milliardäre, also die Herren des Großkapitals. Die Milliardäre waren die Urheber des Attentats auf Kennedy, die durch seine Entspannungs- und Bankpolitik am meisten Profit eingebüßt hätten.

    Gespenstisch die Situation! Wie eine riesenhafte Krake greift die kleine Schar von Superkapitalisten in alle Winkel amerikanischen Lebens hinein. Keiner ist befreit, keiner vor ihrem Zugriff sicher. Selbst der amerikanische Präsident ist mitbetroffen. Meist ist die Präsidentschafts-Wahl von Seiten des Großkapitals her finanziert. Dann ist er ohnehin gefügig. Doch einer scherte aus - John F. Kennedy. Als geborener Millionär war er dem Kapital nicht untertan. Das war sein Fehler. Das wurde ihm zum Verhängnis.

    Mag sein, daß die Schützen neben mir den Präsidenten damals verfehlten - mag sein! Die Hierarchie der Geldmacht verhielt sich aber so, als wäre ein Mord in ihrem Namen geschehn. Und tatsächlich, was für ein Unterschied bestand in dieser Hinsicht zwischen einem geplanten erfolgreichen und einem geplanten doch von einem Außenseiter verübten Attentat. Ich meine: keiner!

    So war es mir vielleicht vergönnt, dadurch, daß ich Kennedy versehentlich erschoß, eine der fürchterlichsten Tatsachen dieser Welt ans Tageslicht zu bringen. Unser Land wird nicht von der Regierung, es wird vom Kapital regiert. Und das in einer beängstigend kriminellen Weise. Möge die Gesellschaft den rechten Gebrauch von dieser Erkenntnis machen!

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  17. Eine Weihnachtsgeschichte
  18. 1943. Berlin wurde bombardiert. Da man Kinder als höchstes Volksgut befand, wurde ich, zusammen mit meiner Großmutter, evakuiert. Nach Ostpreußen, in die Nähe von Osterode, Allenstein. Als wir berliner Kinder dort mit unserer Lehrerin ankamen, bekam der Dorflehrer sofort die Grippe und mußte seine Krankheit mit einer Schar Ostpreußenkindern beim Blaubeerensuchen auskurieren.


    Am ersten Schultag lernte ich dann den deutschen Gruß fachmännisch auszuführen, bekam die Kenntnis des Horst-Wesselliedes verpaßt, und erhielt meinen Platz im Klassenzimmer, ganz unten - die oberen Plätze waren für Kinder von bäuerlichen Lebensmittellieferanten der Lehrerin reserviert. Der Schulweg war lang, etwa eine Stunde, nun ja, von der heutigen Jugend trotz Trimm-dich und so kaum zu bewältigen. Dazu führte er über einen unbeschrankten Bahnübergang, und wenn die Züge dort zufällig stehen blieben, na dann stiegen wir schon mal am Bremserhäuschen die Leiter hoch und auf der anderen Seite wieder hinunter. Kein Erwachsener kümmerte sich darum.

    Meine Großmutter war lieb doch eigentlich mir schon damals nicht gewachsen. Ich wickelte sie um den Finger. Als Kriegerwitwe hatte sie mit kümmerlichem Gehalt zwei Kinder aufziehen müssen. Sie war im niederen Postdienst beschäftigt gewesen, hatte ein Leben lang geschuftet. Sie war innerlich verbraucht. Ich war einer der wenigen Menschen, dessen Liebe zu ihr ganz aus dem Herzen kam. So war es selbstverständlich, daß sie mir das Weihnachtsfest so schön wie möglich zu gestalten suchte.

    Meine Eltern hatten mit meiner Großmutter ausgemacht, daß wir das Weihnachtsfest in Ostpreußen feiern würden, dh. sie wollten versuchen, zu uns hinzukommen. Das war damals nicht so einfach, weil mein Vater einen kriegswichtigen Betrieb leitete, in dem Krankenfahrstühle für Kriegsverwundete hergestellt wurden. Deshalb konnte er nicht einfach aus Berlin wegfahren. Das war der Stand einige Tage vor Weihnachten. Dann hatte meine Großmutter noch ein Telefonat mit Berlin. Offenbar waren die Chancen weiter gesunken, daß meine Eltern zu uns kamen.

    Zwei Tage vor Weihnachten verkündete meine Großmutter: "wir wollen sie in Berlin überraschen!" Also wurden schnell ein paar Sachen eingepackt, und dann ging es los: Osterode, Allenstein, Frankfurt an der Oder. Als wir hielten, stand dort der Gegenzug aus Berlin. Meine Großmutter sinnierte. Wenn deine Eltern es ermöglichen könnten, nach Ostpreußen zu fahren, säßen sie jetzt dort drüben im Zug. - Was soll ich ein Geheimnis daraus machen. Sie saßen in diesem Zug.

    Als wir in Berlin angekommen waren, gab es erst einmal einen Bombenangriff. Wir stiegen in den U-Bahnschacht hinunter. Da lagen die Familien nebeneinander. Man konnte kaum durchkommen, überall saßen oder lagen Menschen, auf dem Bahnsteig, auf den Gleisen. Wir waren froh, als der Angriff zuende war. Dann machten wir uns auf den Weg. Wir hatten nur das kleine Stück vom Wittenbergplatz zur Lutterstraße zurückzulegen. Gleich an der Motzstraße war die Wohnung meiner Eltern.

    Aber es war dunkel. Kein Mond, kein Stern schien. Wegen der amerikanischen Flugzeuge waren die Laternen unbeleuchtet. Es war pechschwarz. Für die vielleicht 500 Meter haben wir wohl eine Stunde gebraucht. Und dann kommen wir an, und alles ist verrammelt. Ein Nachbar, der meine Großmutter kennt, bringt die Schlüssel. Was nun? Dann der Anruf aus Ostpreußen von meiner Mutter. Von allen Erwachsenen hatte ich vor meiner Mutter den größten Respekt. Bei ihr ging nichts durch.

    So bestimmte auch sie, was jetzt Sache war. Zunächst wurde festgestellt, daß meine Großmutter zu Verabredungen untauglich wäre. Sodann wurde energisch angemahnt, nicht noch eine Dummheit zu begehen. Facit: wir sollten auf dem schnellsten Weg nach Ostpreußen zurückkommen. So setzten wir uns am nächsten Morgen noch einmal in den Zug, diesmal in umgekehrter Richtung, und erreichten dann auch mehr oder weniger rechtzeitig das ostpreußische Domizil.

    Meine Eltern hatten in der Zwischenzeit zwei wichtige Dinge in die Wege geleitet. Einmal hatten sie beim dortigen Förster die Genehmigung zum Schlagen eines Weihnachtsbaums erkauft. Und dann hatten sie mit dem russischen Kriegsgefangenen, der auf dem Bauernhof Dienst tat, eine Übereinkunft erreicht, den Auftritt eines Knecht Ruprechts betreffend. Das einzige Manko an der Sache war - unser Petrov konnte nur sehr sehr wenig Deutsch. Macht nichts, sagte mein Vater, den Rest besorgt die Glocke, die sie ihm mitzugeben versprachen.

    Am Vormittag des heiligen Abends zogen mein Vater und ich dann los, den Baum zu schlagen. Die Male, die ich in meinem Leben mit meinem Vater ungestört und miteinander im Einklang zusammen war, kann ich an den Fingern einer Hand abzählen. Hier, in dieser so selten kostbaren Stunde, waren es noch genau 16 Monate bis zu seinem Tode im Kessel von Berlin, wo zuletzt noch so viele Menschen, die nie auch nur den Wunsch verspürt hatten, jemanden zu töten, sinnlos dahingerafft wurden.

    Wir gingen in den Wald. Die Kraft meines Vaters, nach außen hin wenig sichtbar, übertrug sich auf mich und gab mir Sicherheit. Wir stapften durch den Schnee und etwas von dem Ernst, der sonst meinen Vater umgab, wich in der vorweihnachtlichen Stimmung. Ja, er machte einem Übermut platz, der sonst so gar nicht zu meinem Vater paßte. Wir wählten einen Baum. Schön gewachsen war er, das konnte man sehen. Also nahm mein Vater die Axt und nach kurzer Zeit war die Tanne gefällt.

    Schön war sie schon, nur an einer Seite etwas kahl, das hatte man vorher nicht sehen können. Als wir 100 Meter weiter eine andere Tanne sahen, die diesen Mangel nicht hatte, ja, da dachten wir, wäre es nicht besser gewesen, diese mitzunehmen. Wie zwei verschworene Gauner stellten wir die mitgebrachte Tanne zur Seite, sahen uns um, ob kein Förster in der Nähe wäre, fällten die neue Tanne und stellten die alte scheinheilig an den Platz der neuen. Mit etwas Rütteln stand sie dann auch. Man hätte glauben können, sie wäre dort angewachsen. Mit Unschuldsmiene gingen wir mit der getauschten Tanne weiter. Irgendwann wiederholten wir die Prozedur noch einmal.

    Dann kam die weihnachtliche Bescherung. Als die Lichter am Tannenbaum brannten bimmelte es draußen lang und deutlich und mit einem lautvernehmlichen "Gut Abend", "bimmel-bimmel-bimmel-bimmel" kam Knecht Ruprecht zu uns herein. War ich vorher etwa im Zweifel, ob es so etwas wie einen Weihnachtsmann überhaupt geben könne, hier war der Beweis, es gab ihn, denn er ließ den Jutesack mit Schwung von den Schultern herabkrachen, blickte sich im Zimmer um, "bimmel-bimmel-bimmel-bimmel", erblickte mich und kam dann prompt auf mich zu: "Du!"

    Meine ganze sechsjährige Überlegenheit Weihnachtsmännern gegenüber war fort. "Gedicht!" Ich deklamierte: "Lieber guter Weihnachtsmann, sieh mich nicht... usw ". "Gut!", verkündete er, "bimmel-bimmel-bimmel-bimmel", er suchte nach dem entscheidenden Wort, "bimmel-bimmel-bimmel-bimmel", endlich das erlösende Stichwort "Geschenke". Er schüttete mehr oder weniger gekonnt den Inhalt des Jutesacks auf den Boden, "Hier!", machte noch einmal "bimmel-bimmel-bimmel-bimmel" und stapfte wieder zur Tür hinaus.

    Ich war beeindruckt. Nur etwas war mir eigentümlich vorgekommen: "warum hat Knecht-Ruprecht so viel gebimmelt?", fragte ich. "Ach", sagte meine Mutter, das lag an der Glocke, manche läuten von ganz alleine." - "Und warum habt ihr Tränen in den Augen?" Nun, sie konnten ja nicht zugeben, daß sie heimlich Tränen gelacht hatten. "Das war der Ofen, der hat vorhin gequalmt." Damit war ich zufrieden.

    Nun wurde das Lied: Leise rieselt der Schnee, still und starr ruht der See..." gesungen. Es ist mir noch heute so, als wäre dieses Lied direkt auf die ostpreußische Winterlandschaft bezogen. Nie wieder habe ich eine solch majestätische Stille wie dort erlebt. Sie entstand durch das Bewußtsein der Weite, die zu dieser Landschaft zu gehören schien. Es war Stille, die auch noch in der Entfernung von Stille begleitet war, unwandelbar, fremdartig, ungeheuerlich. Das allerdings ist mir erst später, viel später bewußt geworden.

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  19. Zeit Gottes
  20. Er saß auf dem Balkon in seinem Sessel, starr, unbewegt, geisterhaft. Er trug einen grauen Hut auf dem Kopf, das war das einzig Markante an ihm. Die junge Frau, die täglich mit der Hamburger Hoch-Bahn am Haus mit dem Balkon vorüberfuhr, dachte zunächst, es handele sich um eine Schaufensterpuppe. Doch das war nicht der Fall. Denn ab und zu bewegte sich der alte Herr, zwar nur in kaum sichtbarer Weise, aber er bewegte sich. Er war also lebendig.

    Der alte Herr interessierte die junge Frau. Er saß nun schon mehrere Monate dort morgens auf dem Balkon, bei jedem Wetter. Gespannt wartete sie auf ihrer morgendlichen Fahrt, den Alten auf dem Balkon sitzen zu sehen. Es war eine liebe Gewohnheit geworden, etwas Festes im sonst unsinnigen Treiben ringsum. Und dann, eines Morgens, war der Balkon leer. Es gab ihr einen Stich im Herzen, denn auf unerklärliche Weise fühlte sie sich dem Alten verbunden.

    Die junge Frau, nennen wir sie Ellen, redete sich ein, daß den Mann eine Unpäßlichkeit befallen habe, daß er am nächsten oder übernächsten Morgen wieder auf seinem angestammten Platz sitzen würde. Doch jedesmal, wenn sie in den nächsten Tagen an dem Haus mit dem betreffenden Balkon vorbeifuhr, war er leer und immer wieder spürte sie dann den gleichen feinen Schmerz in ihrem Inneren.

    Irgend etwas ist mit ihm geschehen, dachte sie, etwas, was ihn von seinem Platz auf dem Balkon fernhält. Ist er etwa krank? Weggezogen kann er nicht sein, denn es hängen noch immer die gleichen Gardinen am Fenster und an der Balkontür. Also war er krank oder gar schwer krank? Die Frau, die wir Ellen genannt haben, ertappte sich dabei, daß ihre Gedanken immer wieder zu dem Mann auf dem Balkon hinglitten, jedenfalls zu dem, der eigentlich auf dem Balkon sitzen müßte und nun nicht dort saß.

    Eine solche Hinwendung an einen total Fremden mag manchem eigentümlich vorkommen, vielleicht auch unpassend oder überspannt. Da ist es gut, gleich noch von einer zweiten Besonderheit Ellens zu berichten. Ellen hatte einen Jemand oder eine Jemandin bei sich, der oder die sich nur als Stimme kundtat. Selbst wenn man das ganze als Albernheit abtun wollte. Die Stimme war da und gab ihren Kommentar ab oder fügte, wie Ellen oft sagte, ihren Senf dazu.

    Wie so oft in verrückten Situationen, in die Ellen geriet, meldete sich die Stimme auch diesmal: "Es wird langsam zu einer fixen Idee bei dir, daß deine Gedanken immer wieder zu dem alten Zausel hinwandern. Was soll das. Hast du nicht genug mit eigenen, wirklichen Problemen zu tun? Komm endlich auf die Erde zurück!"

    Doch im Gegensatz zu sonst, wo sie auf Einwendungen der Stimme sofort reagierte, nahm sie diese heute überhaupt nicht zur Kenntnis, sondern setzte ihre Gedanken unbeirrt fort. Sie versuchte, sich in den Alten hineinzuversetzen, und zwar nicht nur in die jetzige Situation, wo er nicht mehr vorhanden war, sondern auch schon davor, als er mit steinernem Gesicht und kaum merklichen Bewegungen in seinem Sessel auf dem Balkon saß. War er gelähmt, niedergedrückt oder nur bewegungsfaul?

    Und jetzt, was war jetzt mit ihm? War zu der bestehenden eine weitere Lähmung erfolgt, die es ihm unmöglich machte, sich auf den Balkon zu begeben, vielleicht hatte er einen Schlaganfall erlitten, oder vielleicht war ein Überfall erfolgt und er, niedergeschlagen von roher Faust, konnte sich nicht mehr bewegen. "Ellen", sagte die Stimme, "deine Gedanken gehen wieder einmal mit dir durch, eine kleine Unpäßlichkeit wird es sein, nichts Besorgniserregendes. Du wirst sehen, am Montag ist er wieder an seinem Platz".

    Wie Ellen vermutete, war er auch am Montag nicht zu sehen, und als sie am Dienstag morgen ihn noch immer nicht auf dem Balkon sitzen sah, da entschwand ihr für kurz aus dem Gedächtnis, daß sie der alte Mann auf dem Balkon eigentlich gar nichts anging. Obwohl sie nichts mit ihm zu tun hatte, erhob sie sich an der nächsten Station kurz entschlossen von ihrem Sitz, ging zur Wagentür und verließ den Zug. Dann stand sie erst einmal etwas benommen auf dem Bahnsteig, einen klaren Gedanken zu fassen.

    "Was tust du da", sagte die Stimme zu ihr, "Ellen, du mußt zugeben, daß du den Menschen nicht kennst, er von dir keine Ahnung hat, und höchst wahrscheinlich im äußersten Maß schockiert ist, solltest du bei ihm aufkreuzen." - "Ich sehe es ein", sagte Ellen zu ihrer mahnenden Stimme, mit dem nächsten Zug fahre ich weiter - Ehrenwort!" Damit setzte sie sich in Bewegung, dem Bahnhofsausgang zustrebend.

    Als sie auf der Straße angekommen war, sah sie vor sich einen Blumenladen. "Du wirst doch nicht etwa noch einen Strauß Blumen kaufen," fragte die wachsame Stimme in ihr. "Vergiß nicht: das Geld wächst nicht auf Bäumen, also bitte, halt dich zurück!" - "Ich habe nicht die geringste Absicht, so etwas zu tun," sagte Ellen, betrat den Laden und verließ ihn nach wenigen Minuten mit einem prachtvollen Strauß rötlich-gelber Chrysanthemen.

    "Du bist eine Lügnerin, Ellen," sagte die leise Stimme, "das weiß ich schon lange, aber so feucht-frech hast du noch nie gelogen. Erzähl mir jetzt nur nicht, du hast den Strauß für dich gekauft.“ - "Vielleicht, vielleicht auch nicht," sagte Ellen, "wir werden sehen". Damit ging sie schnellen Schrittes vorwärts, bis sie bei dem Haus angelangt war, auf dessen Balkon der alte Herr stets gesessen hatte und nun nicht mehr saß.

    "Also der Balkon des alten Herrn liegt im zweiten Stock ganz an der Ecke des Hauses," sagte Ellen zu sich, "die Wohnung müßte sich finden lassen." - "Du wirst doch nicht etwa zu dem alten Herrn hinaufgehen. Das wäre eine Aufdringlichkeit, die geradezu skandalös wäre." - "Ach halt jetzt mal die Klappe," sagte Ellen zu der aufsässigen Stimme, "ich gehe hinauf, ob es dir paßt oder nicht - basta!"

    Als sie im zweiten Stock angekommen war, fiel ihr sofort dort, wo sie den Eingang zur Wohnung des alten Herrn vermutete, ein sehr geschmackvoll gestaltetes Türschild auf: "Woldemar von S.". - "Den Namen Waldemar kenn ich," dachte sie, "aber Woldemar? Was soll´s, seinen Namen kann man sich nicht aussuchen. Man heißt wie man heißt." Damit drückte sie auf den Klingelknopf.

    Eine junge Frau öffnete die Tür: "Sie wünschen?" - "Jetzt siehst du es," sagte die Stimme in Ellen, "du kannst ihr nicht einmal begreiflich machen, was du hier willst!" - "Wohnt hier ein älterer Herr, der oft so einen grauen Hut auf dem Kopf trägt, jedenfalls, wenn er auf dem Balkon sitzt?" - "Stimmt, Herr von S. hat auf der Kommode einen Hut zu liegen, und wenn ich mich recht erinnere, ist er auch grau. Ob er ihn trägt, weiß ich nicht."

    "Wenn es die Zeit von Herrn von S. erlaubt, würde ich ihn gern sprechen, nur kurz, ich möchte nicht aufdringlich sein, und seine Zeit zu sehr beanspruchen." - "Nicht aufdringlich will sie sein, dabei ist das ganze eine einzige Aufdringlichkeit." meldete sich die Stimme in Ellen. "Ach wissen sie," sagte die junge Frau, "Zeit hat er genug, das heißt genug von der Zeit, die ihm noch geblieben ist. Kommen sie herein."

    Der Raum, in den sie kam, war abgedunkelt. An der Seite stand ein Bett und darin lag der alte Herr, den Ellen so oft auf dem Balkon hatte sitzen sehen. Als sie den Raum betrat, öffnete er die Augen und sah sie an. Er sagte kein Wort, so bewegungslos, wie er auf dem Balkon saß, so ohne Regung war er auch jetzt. "Ich habe ihnen ein paar Blumen gebracht," sagte Ellen, "vielleicht, daß sie ihnen ein wenig Freude bereiten."

    Der alte Herr machte den Eindruck, als wäre er aus einem langen, bösen Traum erwacht. "Wie kommen sie nur darauf, gerade mir diese wundervollen Chrysanthemen zu schenken?" fragte er sie. "Sie kennen mich doch gar nicht." - "Ich kenne sie schon, jedenfalls aus der Entfernung. Ich fahre jeden Morgen mit der Hoch-Bahn an ihrem Haus vorbei und konnte sie bisher stets auf dem Balkon sitzen sehen. Seit einigen Tagen saßen sie nicht mehr dort. Das hat mich beunruhigt. Deshalb wollte ich nachsehen, ob ihnen etwas zugestoßen ist."

    "Zunehmende Schwäche bewirkte, daß ich nicht mehr auf dem Balkon sitzen kann. Sie haben es bemerkt und besuchen mich nun. Ihr Besuch ist seit langer langer Zeit die erste Freude für mich. Ich weiß nicht, wie ich ihnen danken soll." - "Ach, sie müssen sich nicht bedanken," sagte sie, "für mich war der Anblick, den sie sitzender Weise auf ihrem Balkon boten, immer etwas so poetisch schönes, es war, als wäre die Zeit in ihnen und um sie herum zum stehen gekommen, daß die Freude, sie unversehrt in der ihnen eigenen Ruhe zu sehen, mich für die kleine Mühe, die ich hatte, voll entschädigt."

    Herr von S. schüttelte sein Haupt. "Ich glaube," sagte er zu Ellen, "sie sind da einem großen Irrtum erlegen. Die Ruhe, ich möchte sie eher Starrheit oder Lethargie nennen, stammt nicht aus einer harmonischen Zufriedenheit des Herzens, sondern aus einer physischen Schwäche, die durch Verstrickung in ungeheure Schuld entstanden ist.

    Es sind Verbrechen an der Menschheit, die ich begangen und letztlich allein zu verantworten habe, die im Nachhinein meine letzten Jahre verdunkelten. Sie verursachten nebenbei diese schreckliche leibliche Schwäche, die mich zur Tatenlosigkeit zwingt, so daß ich nicht einmal versuchen kann, etwas von meiner aufgehäuften Schuld abzutragen."

    Ellen blickte ihn interessiert an: "Falls es ihre Seele erleichtert, erzählen sie mir doch von den Taten, die sie als Missetaten empfinden. Ich habe festgestellt, daß die meisten Menschen eine dunkle Seite in ihrer Seele haben, die sie am liebsten ausradieren oder wenigstens wegleugnen würden. Wenn sie, Herr von S., mit diesem dunklen Bereich allein nicht zu Rande kommen, vielleicht hilft es Ihnen, alles vor einer Unbeteiligten auszubreiten."

    "Würden sie mir wirklich zuhören, sie, die nichts mit dem ganzen zu tun haben, würden sie das wirklich tun?" fragte er. "Aber gewiß doch", sagte sie, "dazu bin ich ja hier. Ich meine, ich wußte natürlich nicht, was mich bei ihnen erwarten würde. Es war wie ein sich im Innern entwickelnder Zwang. Doch besser so, als wäre ich achtlos an einem Schicksal vorübergegangen, das zu vollenden ich vielleicht Hilfe leisten kann, auch wenn ich nur einen geduldigen Zuhörer abgebe."

    Nachdem sich Herr von S. an einem Stärkungsmittel gelabt, berichtete er: "Ich habe die Wissenschaft stets als Beruf, eher schon als Berufung gesehen. Ich dachte, daß mittels der Wissenschaft eine Gerechtigkeit vollkommenster Art zu erreichen wäre. Das war jedenfalls meine Ausgangsposition. Ich wollte Gerechtigkeit um jeden Preis. Ich meinte, die vollständige Gerechtigkeit würde die Verhältnisse für alle Menschen in die einzig erstrebenswerte Bahn lenken."

    "Als Wissenschaftler war ich hoch geachtet," fuhr er fort, "hatte aber doch nicht das erreicht, was ich ins Geheim zu erreichen hoffte. Da erhielt ich den Ruf einer amerikanischen Universität. Mit Freuden nahm ich den Ruf an. Und wie es sich ergab, waren meine Vorlesungen dort auch äußerst erfolgreich. Das besonders deshalb, weil meine Vorstellung der absoluten Gerechtigkeit in den USA auf größte Gegenliebe stieß. Die Folge war, daß nicht nur Studenten, sondern auch Militärs meine Vorlesungen besuchten.

    Als das Semester zu Ende ging, bekam ich plötzlich eine Einladung ins Pentagon. Dort eröffnete man mir, daß man ein Forschungsprojekt ins Leben rufen wolle, bei dem Geld gewissermaßen keine Rolle spielen würde. Ich könnte aus dem Vollen schöpfen und Forschungen realisieren, die sonst undurchführbar wären. Die einzige Bedingung wäre, an der Konzeption und Ausarbeitung einer neuen Waffengattung mitzuwirken.

    Diese neue Waffe wäre nicht wie die bisherigen Waffen einzustufen. Sie wäre die Waffe der Gerechtigkeit. Deshalb wären die Militärs von meinen Vorlesungen auch so begeistert gewesen, da es offenbar mein Hauptanliegen sei, der Menschheit den Gedanken der absoluten Gerechtigkeit nahezubringen. Hier nun wäre die Möglichkeit gegeben, die von mir angestrebte Gerechtigkeit in absoluter Art zu verwirklichen.

    Ich war von der Idee fasziniert, einmal eine wahrhaft gerechte Lösung für die Probleme der Menschheit herleiten zu dürfen. Daß dies auf waffentechnischem Gebiet erfolgen sollte, schien mir in diesem Augenblick nicht von besonderer Bedeutung. Schließlich sind die Menschen unfähig, ohne angemessenen Zwang das für sie notwendige zu tun oder auch nur in passiver Weise gerechte Notwendigkeiten zu akzeptieren.

    Ich merkte bald, daß es kein neues Projekt war, welches mir da angeboten wurde. Es hatte Vorläufer und diese Vorläufer. Dafür forschte man wirklich an vorderster Front. Und Geld spielte wahrhaftig keine Rolle. Was hier an Geld verbraucht wurde, hätte gereicht, den Hunger aller hungernden Menschen der Erde zu stillen. Aber es ging ja um Gerechtigkeit für den Frieden, was machte da der Hunger der hungernden Armen.

    Wenn Friede ungerecht erreicht wurde, würde er durch den Kampf gegen die Ungerechtigkeit, der unausweichlich aufflammen würde, von innen heraus zerstört. Das bewahrte mich vor einer sentimental kitschigen Mitmenschlichkeit und machte meinen Blick frei für die eigentlichen militärischen Aufgaben, die es zu bewältigen galt. Es mußte die wahre, totale, endgültige Gerechtigkeit durch Waffengewalt erreicht werden.

    Einzelne von uns, die den Einsatz der von uns entwickelten Waffensysteme für unverantwortlich, wenn nicht verbrecherisch hielten, wurden durch die Argumentation zum Einlenken gebracht, daß schließlich nicht wir die von uns entwickelten Waffen einsetzen würden, sondern Politiker hohen Ranges, die von innerer Moral gefestigt, keine irgend geartete Fehlentscheidung treffen oder mittragen würden.

    Wir warfen uns zunächst auf die Entwicklung und Vervollkommnung der Landminen. Die Herstellungskosten für Landminen wurden von uns so drastisch gesenkt, daß es möglich war, sie in hundertmillionenfacher Ausfertigung in den Krisengebieten einzusetzen. Ganze Landstriche konnten so unbetretbar gemacht und damit befriedet werden.

    Nachdem die abgereicherte Uranmunition von uns geschaffen war, wendeten wir uns den biologischen und chemischen Waffen zu. Was wir hier für die Menschheit an Kriegstechnologie hinzugewannen, kann nur durch das Wort gigantisch in treffender Weise charakterisiert werden. Wir brachten in einer Generation an Vernichtungskraft mehr zustande, als alle Generationen vor uns." Der Alte hielt im Bericht inne.

    In die entstandene Stille hinein meldete sich die Stimme in Ellen: "Bist du eigentlich noch bei Sinnen? Merkst du nicht, daß du einen der großen Unholde der Menschheit vor dir hast, der mit seiner verlogen wissenschaftsorientierten Auffassung Ungeheuerlichkeiten verübt hat. Nimm deinen Chrysanthemenstrauß, und wirf ihn ihm an den Kopf. Dann sagst du ihm, er solle nach seinem Ableben Hitler schön von dir grüßen. Dem würde er sicherlich im düsteren Teil des Jenseits begegnen."

    "Das werde ich nicht tun," sagte Ellen zu ihrer geheimen Aufpasserin, "wäre er wirklich ein solcher Bösewicht, wie du ihn darstellst, dann hätte er nicht am Anfang von seiner großen Schuld gesprochen, die zweifellos mit den von ihm geschaffenen Waffen zusammenhängt. Also bitte, laß ihn aussprechen und misch dich nicht in Dinge, die du nicht verstehst."

    Zum noch immer schweigenden von S. sagte sie mit weicher Stimme: "Sagen sie Woldemar, sie heißen doch Woldemar, was hat es nun bewirkt, daß sie sich eine so große Schuld anlasten, die ihre letzten Jahre über das Maß verdunkeln konnte. Was brachte sie zu der Einsicht, sich nicht mehr von der aufgehäuften Schuld reinwaschen zu können."

    Woldemar von S. schien sich einen Ruck zu geben, denn zwar zögernd, doch mit fester Stimme sprach er weiter: "Ich habe damals im Auftrag des Pentagons sehr gut verdient, so daß ich nach dem Ausscheiden aus dem Militärprojekt das Berufsleben ganz aufgeben konnte. Ich hätte nun meinen Neigungen leben können, doch ich spürte eine innere Unruhe in mir, die mich zwang, ein unstetes Wanderleben aufzunehmen. Ich reiste hierhin und dorthin, besonders aber in die Gegenden, in denen Bürgerkriege geherrscht hatten.

    Und da sah ich es. Ich sah es immer und immer wieder. Kinder, deren Arme und Beine verkrüppelt waren oder ganz fehlten. Fragte man nach dem Warum, so bekam man stets die gleiche Antwort: Landminen! Sie lagen versteckt irgendwo im Sand, und wenn die Kinder spielend oder aus anderem Grunde in ihre mörderische Reichweite gelangten, dann bissen sie zu. Ganz schnell, ganz bösartig, ganz blutig!

    Viele der Kinder starben, andere waren in Sekunden zum Krüppel gemacht. Die Schar dieser Verstümmelten und um all ihre Lebenschancen gebrachten wurde größer und größer, denn Millionen und Abermillionen dieser schreckenbringenden Minen lagen heimtückisch versteckt irgendwo dort, wo sie keiner vermutete. Erst wenn sie detonierten, die Gliedmaßen wegfetzten, wurde ihr schreckliches Geheimnis offenbar. Dann war es zu spät.

    Ich begriff, daß durch meine unbedachte Arbeit, mein verbrecherisches Mittun, eine Lawine des Unglücks entstanden war. Ich hätte es mir sagen müssen, daß die einmal erreichte Kenntnis der preiswerten Herstellung dieser kleinen Monsterbomben, nicht auf irgendein Land einzugrenzen war. Auf fürchterliche, doch so nicht gewollte Art, war der Einsatz der Landminen in die Gerechtigkeit der allgemeinen Herstellbarkeit und militärischen Einsetzbarkeit geraten.

    Jedes miese kleine Land, jede Befreiungsorganisation konnte Landminen legen. Man mußte die Minen nicht mal selbst produzieren. Die Industrienationen wetteiferten darin, sie den armen Ländern zu deren beliebigen Einsatz zu verkaufen. Eine Gerechtigkeit des Schreckens entstand. Zunächst für die in Kriegshandlungen verwickelten armen Länder. Doch was würde die Zukunft bringen. Vielleicht würden in den reichen Ländern auch einmal Landminen gelegt.

    Ich begriff, daß Gerechtigkeit, so wie sie die Menschheit heute versteht, diametral gegen jede Form der Menschlichkeit gerichtet ist. Ja, hätte man Gerechtigkeit als Auftrag zu einem Ausgleich der divergierenden Besitztümer der Einzelnen aufgefaßt " von drei Bissen gebe ich einen an einen Hungernden ab - dann wäre Gerechtigkeit schon ein Ziel, das zu verfolgen sich lohnte. Doch so wurde Gerechtigkeit heute nicht gesehen. Gerecht war, wer auf einen empfangenen Hieb drei Hiebe zurückgab.

    Als ein gläubiger Mensch, der ich von Jugend auf war, dachte ich damals, Gott dadurch am besten zu gefallen, daß ich den Bösen ihre Bosheit mit Zins und Zinseszins zurückzahlte, um so der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Daß diese Art Gerechtigkeit mit dem Leid vieler Unschuldiger erkauft werden muß, ist mir erst durch das, was ich an Elend sah, bewußt geworden.

    Vor einem Jahr warf mich eine tückische Krankheit aufs Siechenbett. Zwar konnte man mich für Stunden hinaus auf den Balkon in einen Sessel setzen. Doch die körperliche Starre, die mich erfaßt hatte, ließ mich auch an der frischen Luft nicht los. Nur wenn ein Zug die Gleise entlangfuhr, kehrte für Sekunden eine geringe Lebendigkeit in mich zurück.

    Ich habe vor ihnen mein ganzes verpfuschtes Leben ausgebreitet. Erst jetzt, nach dem Gespräch mit Ihnen, ist mir plötzlich klar geworden, daß es keinen Unterschied zwischen den Landminen und allen anderen Waffen gibt. Alle sind Ausgeburten einer haßerfüllten menschenverachtenden Lebenseinstellung. Ich empfinde es als ein Verhängnis, jetzt, wo ich die entscheidende Einsicht gewonnen habe, tatenlos bleiben zu müssen. Denn mein Leben ist zu Ende!

    Ich weiß, was ich von nun an zu tun hätte. Ich müßte die Wahrheit herausschreien, daß jede Produktion von Waffen Unrecht weil Unmenschlichkeit ist. Ich stehe an der Schwelle zu meinem Tode und hadere mit dem Schicksal, daß es mir die Zeit nicht läßt, die Akzeptanz, ja Verherrlichung des Krieges als ein schweres Verbrechen anzuprangern."

    Er sah Ellen mutlos und schmerzerfüllt an. Plötzlich entsann sie sich eines Romans von Thornton Wilder, in dem ein junger Mann, Theophilus North, der sterbenden Liselotte Hoffnung gespendet hatte und sie beschloß, dies mit den gleichen Worten bei Woldemar zu versuchen. "Sind sie der Meinung, lieber Woldemar," begann sie, "daß Gott, an den sie nach eigenem Zeugnis ja glauben, durch eine besonders schnöde Tat dahin bestimmt werden kann, alle Gnade, alle geistige Kraft von einem Menschen abzuziehen und ihn der Verelendung und geistigen Agonie auszuliefern?

    Ich meine, das glauben sie nicht. Es ist auch nicht so. Das Leben ist ein wundersames Geflecht von Geschehnissen, Chancen, Versuchungen, die in mancherlei Triumphen, aber auch in schweren Niederlagen ihren schicksalhaften Niederschlag finden. Mag sein, daß ihr Leben an einem Endpunkt angelangt ist. Aber jedes Ende ist als Beginn einer neuen Form des Daseins aufzufassen. Gewiß, sie haben gefehlt. Doch Gott wird ihnen Gelegenheit geben, alle Schuld in angemessener Weise durch Liebe und Mitgefühl zu sühnen.

    Ich denke bei ihrer jetzigen Situation an ein Wort aus der Bibel, das sie gewiß schon einmal hörten. Es lautet: "Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit." Auf normale, alltägliche Situationen bezogen, gibt dieses Wort nicht allzu viel her. Ist der Blick aber auf den eigenen Tod gerichtet, ist dieses Wort geeignet, Trost und Hoffnung in nie geglaubter Weise zu spenden.“

    "Ich hörte das Wort in meiner Kindheit", sagte Woldemar, "ich hörte es und vergaß es wieder. Jetzt ist es zu mir zurückgekehrt: Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit. Dann ist die mir von Gott bestimmte Sterbestunde auch die beste für mich. Wie konnte ich das vergessen." Ellen ging zur Balkontür, zog den Vorhang zur Seite. Da schien die Sonne ins Zimmer hinein und ließ den Raum kurz in einem unwirklichen Licht erstrahlen. Ein Seufzer entrang sich Woldemars Brust, dann war er still. "Es ist vollbracht", sagte Ellen zu sich und verließ Zimmer, Wohnung und Haus.

    "Mag sein," meldete sich die Stimme in Ellen zu Wort, "daß du eine tiefe Befriedigung fühlst, wenn du wie heut Trösterin und Lichtgestalt spielst und einen Sterbenden ins Totenreich geleitest. Mich aber, die ich nur eingebildetes Sein besitze, greifen solche Dinge maßlos an. Nimm bitte ein wenig Rücksicht auf jemanden, der gezwungen ist, Höhen und Tiefen mit dir zu teilen. Noch jetzt befällt mich ein Fieber, denke ich nur an den Ablauf dieses Tages zurück. Sind wir zu Haus, begebe ich mich sofort zu Bett. Das ist das Einzige, was eine erdachte Person in dieser Situation noch zu leisten vermag."

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    Datum letzter Änderung: 11.02.2008